BAILAMOS!

In Buenos Aires mischen sich Rationalität und Hektik mit südlicher Lebensart und Erotik. Die Stadt giert nach Kunst, sie ist schön, schmutzig und wild zugleich. Mit einem Wort: aufregend!

Text: Silvia Matras

Alle Ungereimtheiten, die verborgenen und die offenen Sehnsüchte, die Nöte, die Fragen nach dem Woher, die nie erfüllten Träume und die wirre politische Geschichte der Stadt Buenos Aires vereinen sich im Tango. Wie Paris den Eiffelturm, Rom das Kolosseum, Wien das Riesenrad als Wahrzeichen haben, so hat, nein, ist Buenos Aires - Tango. In der Stadt dominieren starke, fast schmerzhafte Kontraste. Auf noble Villen im französischen Klassizismus blicken kühle Bürotürme oder einfallslose Wohnnadeln herab. Um einen riesigen Park mit uralten Ficusbäumen führen sechsspurige Straßen, Abgaswolken verblauen den Blick und die Luft.
Die Stadt stellt ihre Schönheit dauernd in Frage, zerstört sie, um sie im nächsten Augenblick neu zu erschaffen. Hoch und niedrig, Dekor und Schmucklosigkeit, Prunk und Armut, Grau und Farbenfreude mischen sich zu einem sich ständig ändernden Kaleidoskop. Das Auge hat Mühe, fixe Bilder zu erfassen, nichts lässt sich eindeutig festmachen, alles ist in Bewegung. Die Menschen rennen, verharren kurz an Kreuzungen, stehen geduldig Schlange vor Bushaltestellen und Bankschaltern, manchmal wirken sie ungeschützt wie Ameisen, dann wieder schwillt die Menge zu rollenden Wogen an. Die Stadt dehnt sich weit in die Pampa hinaus, ihre Ränder fransen aus.
Zwölf Millionen Menschen nennen sich "porteños", Bewohner von Buenos Aires. Buenos Aires kommt nie zur Ruhe, auch nicht nachts, der Puls der Stadt rast 24 Stunden auf Hochtouren. In keinem Lokal wird vor 21 Uhr serviert, man sitzt bis Mitternacht und isst, dann gehen die Tanzlustigen in eine Milonga, wie die Tangolokale hier heißen, tanzen bis drei Uhr morgens, nehmen ein zeitiges Frühstück im Café Tortoni oder im Dorrego, ein wenig Schlaf, und schon stürzt man sich in den nächsten Tag.

EL ABRAZO - Die Umarmung

Alles begann mit dem Kleid. In Inés' Laden türmten sich Hüte, Handschuhe und Kleider aus der Zeit um 1900 und später. Sie verliebte sich in ein schwarzes, eng anliegendes, mit roter Seide unterlegtes Spitzenkleid. Der gewagte Seitenschlitz gab bei jeder Bewegung den Oberschenkel und die halbe Hüfte frei. Herrlich verrucht, aber untragbar, befand sie nach dem ersten Anprobieren. Da war sie noch nicht von Buenos Aires gestählt. "Du musst in diesem Kleid Tango tanzen", riet, befahl Inés. Keine Widerrede. Tja, aber wo und mit wem? Ihre Erfahrungen in der so genannten "Academia Nacional del Tango" waren alles andere als ermutigend. Dort zerrten frustrierte, ausgeleierte Kerle hoffnungsvolle Touristinnen grob durch den Saal. Trotzdem kaufte sie das Kleid. Als Talisman, als Maskottchen, als Ansporn. Ines nickte zufrieden und packte es ein.
In San Telmo herrschte Hochbetrieb. Wie jeden Sonntag hielten die zahlreichen Antiquitätengeschäfte geöffnet, um den europäischen Touristen teuer zu verkaufen, was damals die Emigranten aus Europa nach Argentinien mitgeschleppt hatten. Unzählige Stände mit Kitsch und Kunst füllten die Gassen rund um die Plaza Dorrego. Von ihrem kühnen Kauf noch immer beschwingt, schlenderte sie zwischen den Tischen mit herrlichem Kram aus dem vergangenen Jahrhundert, kaufte eine Kette aus den Zwanzigerjahren, die zu ihrem Kleid passte - und wusste immer noch nicht, wo sie "ihn" finden sollte.
Trotz glühender Hitze tanzten einige Paare auf der Plaza einen phantastischen Tango. Mit einer solchen Hingabe, dass man die gut gespielte Erotik gern für echt halten mochte. Dass sie das für Geld taten, störte weder sie noch ihre Zuseher. Sie spürte: Der Tango zog sie mehr und mehr in seinen Bann.
Entschlossen zog sie am Abend los in die "Confiteria Ideal". Diese seltsame Mischung aus verkommener Konditorei und muffigem Pensionistenlokal zu ebener Erde samt abgewetztem Tangosalon im ersten Stock war ihr schon auf ihrem ersten Streifzug durch die Stadt aufgefallen und hatte sie neugierig gemacht. Das verruchte Kleid ließ sie im Hotel im Schrank hängen.
In der Mitte des riesigen Saales übten einige Paare konzentriert Schrittkombinationen. Ein Tangomeister wirbelte um sie herum, korrigierte, tanzte mit der einen oder anderen Dame, führte gekonnt, markant und entschlossen. Das war er! Mit ihm wollte sie tanzen. Als sie den Arm um Eduardos Schultern legte und im engen abrazo die ersten Schritte mit ihm tanzte, wusste sie - für ihn würde sie einmal das Kleid tragen.

LA CAMINADA - Das Gehen

Von nun an war ihre Tageseinteilung vom Tango bestimmt. Wann immer es möglich war, trafen sie sich in einem kleinen Tanzstudio etwas außerhalb des Zentrums. Sie musste vieles über Bord werfen, was bis dahin für sie Tango war. Tanzschulballast. Keine ruckartigen Bewegungen, ruhiger werden, die Pausen spüren, mit fließenden, langen Schritten gehen, seinem Körper folgen, forderte er. Aus der Hüfte heraus gehen, den Oberkörper eng an seinen geschmiegt. Er sprach vom Gleichgewicht, dem inneren und äußeren, der Balance. Ganz ohne Aufwand, wie selbstverständlich tanzte sie mit ihm den paseo basico, die salida, die cunita und die ochos. Er legte ihr seine Tango- und seine Weltsicht dar, die eng miteinander verknüpft waren: "Tango ist wie miteinander schwimmen oder miteinander im Gehen verschmelzen. In der caminada erobern wir uns den Raum, gestalten uns die Welt. Wenn du Buenos Aires kennen lernen willst, dann musst du die endlosen Straßen abgehen. Mit weit ausholenden Schritten, aus der Hüfte heraus, den Oberkörper gerade."
Sie probiert das in der Florida Street aus. Kein ausgreifendes Schreiten möglich. Nur Rennen, Rempeln, Rasen. Durch das Bankenviertel. Protzige Paläste, Respekt einflößend. Vor der Bank of Boston haben im Dezember 2001 die Menschenmassen demonstriert, wütend ihr Geld zurückverlangt, das über Nacht nichts mehr wert war. Verzweifelte und Aufgebrachte klebten das Eingangsportal mit hunderten Zetteln voll, auf denen sie von den ladrones, den Dieben und Betrügern, ihr Erspartes zurückforderten. Genützt hat es ihnen nichts. Die Zettel kleben heute noch dort.
Sie ging durch die Avenida de Mayo mit ihren ehrwürdigen Regierungsgebäuden, dem Nobelcafé Tortoni und der Casa Rosada, dem zuckerlrosa und pfirsichgelben Sitz des Präsidenten Néstor Kirchner. Davor ziehen alte Frauen ihre stillen Kreise. Auf ihren weißen Kopftüchern eingestickt die Namen derer, die in der Militärdiktatur der Siebzigerjahre verschwunden sind.
Sie ging durch die Avenida 9 de Julio. Die breiteste Straße der Welt. In einer Grünphase von einer Seite auf die andere zu gelangen ist selbst mit weit ausgreifenden Laufschritten nicht möglich. Im Grunde ist es aber egal, auf welcher Seite man geht. Immer beherrschen Reklameschilder den Blick. Mittendrin, zwischen Hotelhochbauten, Cafés und Schnellimbissen, hie und da eine Villa im französischen Stil. Und von sechzehn Fahrspuren umflossen plötzlich der Obelisk, das Symbol der Freiheit.
Sie fuhr auf die Terrasse des Hotels Panamericano im 23. Stock. Ein strahlendes Abendlicht legte sich über die Monsterstadt und verwandelte die Konturen der Hochhäuser in scharfe, in den Himmel schneidende Skulpturen, Riesennadeln, zwischen denen sich die kleineren Häuser zu behaupten versuchten. Und im Süden der braunsilbrige Rio de la Plata, ohne Horizont, ein Fluss breit wie ein Meer. Als die Sonne unterging, wurden in der schwarzen Silhouette der Stadt die Reklamen zu leuchtenden Dekors. Darüber tiefrote Wolkenfetzen.

LOS GANCHOS - Ein Bein umschlingt das des Partners

Das Chaos der Schritte und Figuren begann sich zum erkennbaren Muster zu formen, das sie mit zunehmender Selbstverständlichkeit zu tanzen verstand. Eduardo führte sie in neue Kombinationen, musste nichts mehr erklären. Die Musik floss zwischen ihren Körpern, verschmolz sie zu einer Einheit. Sie folgte dem Druck der Schulter, der Hand, des Oberschenkels, tanzte den Tango negro, rasend, atemraubend. Mit einer schnellen Drehung öffnete er den engen abrazo, ließ sie frei, sie schlang ein Bein um seines, ein kurzes rituelles Verhaken, hart, fordernd, nur für den Bruchteil einer Sekunde, dann übernahm wieder er die Führung. Im Tango "El Motivo" glaubte sie die Traurigkeit der Heimatlosen zu hören, die einst von Europa nach Buenos Aires ausgewandert waren.
Eduardo sagte zu ihr: "Tango ist Mystik, in ihm vermischt sich die Vergangenheit mit der Gegenwart. Er ist die eine Heimat für uns, die wir alle aus verschiedenen Heimaten kommen. In ihm spielen die Gauchos ihre Melodien aus der Pampa, die Einwanderer ihre Erinnerungen an Europa. Tango ist die Sehnsucht nach unseren Wurzeln und Inspiration für Neues."
Sie fand, was er meinte, in den Bildern von Ana Candioti und den Frauenfiguren von Marina Dogliotti wieder. Beide Künstlerinnen waren auf der Suche nach der Herkunft der argentinischen Bevölkerung. Candioti malte die Indigenas, denen einst die argentinische Erde gehört hatte und die nun vom Verschwinden bedroht waren. Die Frauenfiguren Marina Dogliottis erinnerten an Madonnen, unter deren Mantel Leid in Leben umgewandelt wurde. "Meine Generation muss Zeugnis ablegen von der Nostalgie und den Schmerzen derer, die aus verschiedenen Ländern der Erde hierher eingewandert sind. Nur in der Konfrontation mit unserer Vergangenheit finden wir unsere Identität", erklärte ihr Marina Dogliotti.
Sie begriff: Das zentrale Thema aller porteños war die Frage nach der Herkunft. Sie stellte sich im Tango, in der bildenden Kunst und in der Architektur. Die Antworten waren so verschieden wie die einzelnen Viertel der Stadt: Da gab es Palermo, das heimelige Viertel der Italiener, Jungdesigner und Revoluzzeryuppies; Retiro mit seinen kühnen, in die Höhe strebenden Bürotürmen, Zeichen eines sehr schwankenden wirtschaftlichen Aufstiegs; Recoleta, faszinierend wegen seiner Mischung aus cachivache, Billigtrödel, ausgebreitet auf den Holztischen im großen Park vor dem Friedhof, und Edeltrödel von Vuitton, Gucci und Armani; La Bocca, das zur Tourismusattraktion aufgestylte Viertel der Armen; San Telmo, wo die passionierten Tänzer wohnen und arbeiten, unter ihnen die Tangolegende Eduardo Arquimbau oder die Straßentänzer der Plaza Dorrego.
Sie besuchte Jorge Hampton, den Stararchitekten des Stadtviertels Palermo. "Buenos Aires lebt in einer kulturellen Diskontinuität. Es hat noch keine eigene Richtung gefunden", meint er. "Diesen Stilmix kann man als vereinigendes Charakteristikum ansehen, wie zum Beispiel hier in Palermo. Als die Italiener sich hier ansiedelten, bastelten sie in Eigenregie Kopien der Häuser, wie sie sie aus ihrer Heimat kannten. Alle verschieden, aber doch in ihrer Bescheidenheit und Kleinheit einander ähnlich. In jedem Stadtteil von Buenos Aires wurde je nach Geld und Geschmack ganz unterschiedlich gebaut. So entstand dieser Architektursalat aus hoch, tief, Jugendstil, Bauhaus, Corbusier, Hochhaus." Jorge Hampton lebt seit 20 Jahren in Palermo, hat viele der kleinen Häuser vor dem Abbruch gerettet und aus ihnen Werkstätten für Künstler, phantasievolle Räume für Boutiquen, Bars und Wohnungen geschaffen. Ihm und einigen anderen Mutigen ist es zu verdanken, dass Palermo als ein homogener Stadtteil erhalten und zu einem Zentrum für Kunst, Design und qualitätsvolles Wohnen wurde. Inzwischen haben sich an die 200 junge Künstler hier angesiedelt, die meist mit wenig Startkapital ein Haus renovieren, darin arbeiten, wohnen und verkaufen, wie zum Beispiel die drei jungen Modemacherinnen Fernanda, Giulietta und Carla. Nach dem Studium auf der Akademie für Design haben sie das kleine Geschäft "Casa sana" in der Thames Street eröffnet. Ihre Entwürfe sind witzig, jung und haben nichts mit dem europäisch-amerikanischem Modetrend zu tun. Dass jeden Monat, manchmal jeden Tag, eine neue Galerie, eine neue Boutique eröffnet, ist ihnen nur recht. "Je mehr Künstler sich hier ansiedeln, desto besser. Die Konzentration ist ein unschlagbarer Vorteil für uns", meint Carla Ivaldi. Schon hat man einen Namen für all diese Tüchtigen gefunden: die Bobos, nach dem Buch "Bobos in Paradise" des amerikanischen Autors David Brooks. Mit den Bobos ist die Generation von bourgeoisen Bohemiens gemeint, die sich nach einer Zeit des Aufbegehrens zu erfolgreichen Intellektuellen, Unternehmern oder Künstlern gemausert und ihren einstigen Hang zur Revolte in Interesse für Philosophie, Geschichte, Literatur und Kunst umgeleitet haben. Vor drei Monaten eröffnete mitten in Palermo sogar ein Hotel "Bobo". Das klare Design mit viel frischem Himbeerrot und großzügigem Blumenarrangement macht aus dem ehemaligen Patrizierhaus eine den Bobos adäquate Bleibe.
Sie erstand eine Kette aus gebürstetem Silber von Marina Marini. Marini ist eine Bobo durch und durch, eine Frau mit starker Tendenz zum Erfolg und großer Lust am Denken. Jede Woche trifft sie sich mit Künstlern und Philosophen, um über den Zusammenhang von Philosophie und Ästhetik zu diskutieren. Aus diesen Auseinandersetzungen holt sie sich die Ideen für ihren Schmuck, Objekte aus biegsamem, sich ständig veränderndem Material, die sich dem Körper anpassen, Leerstellen ausfüllen und erst ganz zuletzt Modeaccessoires sind.

LA CARPA - Das Zelt

Ganz leichtfüßig begann die Musik zu einem der berühmtesten Tangos Carlos Gardels. Nach einer Pause - vielleicht eine der längsten und schönsten Pausen in der Tangomusik - sang er über den caminito, die kleine Straße in La Boca, in der er mit ihr das letzte Mal gegangen war. Er suchte sie dort immer wieder, kam noch ein letztes Mal, um wenigstens einen Schatten zu finden, eine Erinnerung, und um der Straße sein Leid zu erzählen. Eduardo tanzte diesen Tango mit ganz stillen, langen Schritten. Er führte ihren Körper, der durchgestreckt in extremer Schräge gegen den seinen gelehnt war, in einem langsamen Kreis. Sie hatte gelernt, ihm zu vertrauen. Sie wusste, er hielt sie.
Später suchte sie nach dem Schatten Gardels in La Boca. In diesem Viertel hatten die ersten Auswanderer aus Italien gelebt, ihr Leben als Hafenarbeiter gefristet, ihre Hütten aus Wellblech gebaut und mit buntem Schiffslack bestrichen. Ihr mieses Leben malten sie auf die Wände - ihre Sehnsucht und Traurigkeit drückten sie im Tango aus, an Straßenecken, in Cafés und Wirtshäusern. Aus dieser Vergangenheit hatten tüchtige Geschäftemacher eine bunte, geisterbahnähnliche Touristenattraktion gemacht. Im Caminito posierten tangueros für Geld. Ein Gardel aus Gips winkte von einem Balkon, neben ihm Evita Peron und Maradona, auch aus Gips. Maler produzierten gefällige Tangobilder, aus den Cafés klangen flehende Tangos. Hinter den von Polizisten gut bewachten Straßen begann das andere La Boca. Da war das Leben, wie es immer war: quirlig, prall, laut, Kinderlachen, Frauentratschen, Männer, die schweigen, Männer, die auf Arbeit warten, Jugendliche, die nach fremden Geldbörsen schielen. Tango? - Nein, hier nicht, wir haben andere Sorgen.
Sie fuhr in das Vorortviertel Abasto, wo Carlos Gardel mit seiner Mutter bis zu seinem Tod 1935 gelebt hatte. Das Haus war voller Fotos des großen Tangokönigs. Carlito, die kreolische Drossel, der Mann mit der Träne in der Kehle, der den Tango in die Welt getragen hatte, Carlos in Paris, Carlos in New York. Seine leicht schleifende, nasale Stimme füllte die Räume. In den Nachbargassen überlebensgroße Bilder Gardels über Eingangstoren, auf Rollbalken, über dem "Centro Medico" und die Noten seiner bekanntesten Lieder auf Hausmauern. Aus einer bemalten Garage hörte sie Gardels Stimme. Sie wurde eingeladen mitzutanzen. Zwei Männer, ein kleiner Weißhaariger und ein großer, starker Junger tanzten mit sieben Frauen, sechs davon über siebzig. Eine nach der anderen kam dran. Und dann auch sie. Beifall und Staunen darüber, dass eine extranjera, eine Fremde, den Tango so gut tanzen konnte. Danke, Eduardo. Ich habe soeben eine wichtige Prüfung erfolgreich bestanden, dachte sie.

LA PARADA - Das Anhalten

Die immer komplizierter werdenden Figuren schlossen ihre Körper enger zusammen. Eine Enge, die glühte, die forderte. "El dia che mi quieras no habrá más que armonías" ("Der Tag, an dem du mich begehrst, wird voller Harmonie sein"), sang Carlos Gardel, und sie tanzten die langsame Verlockung. Die Welt um sie schien stillzustehen. Danach war sie unruhig. Wo war ihr klarer Kopf geblieben? War sie gerade dabei, ihn zu verlieren?
Wie um zu besiegeln, was nicht ausgesprochen werden wollte, besuchten sie das Grab des Sängers auf dem Chacarita-Friedhof in Palermo. Er stand auf einem Sockel, ein wissendes Lächeln auf den Lippen - und in seiner Rechten acht rauchende Cigarillos. Das Rätsel war schnell gelüftet: "Immer, wenn der Santino mir einen Wunsch erfüllt, bringe ich ihm seine geliebten Cigarillos. Gestern hat er meiner Lieblingsfußballmannschaft zum Sieg verholfen", sagte die kleine Frau auf dem Sockel und steckte ihm noch einen Glimmstängel zwischen die Finger. "Carlito hilft in schwierigen Lagen, daran glauben wir porteños ganz fest", sagte Eduardo und legte den Arm um ihre Schulter. In diesem Augenblick hätte sie sich ihren kühlen Kopf zurückgewünscht. Gardel schien von diesem Wunsch nicht sehr überzeugt, seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen.
Weg, fort von hier, anderes sehen und keinen Tango tanzen für eine Weile. Das würde helfen, hoffte sie, und flog in den gebirgigen Norden, in das gemütliche Kolonialstädtchen Salta. Dort saß sie auf der Plaza vor der Kirche, sah zu, wie die Schuhputzerjungen die Hunde jagten und die Hunde die Schuhputzer, wie Mann und Frau Arm in Arm auf und ab gingen, auf und ab, ein Rhythmus, der sie beruhigte. Sie fuhr mit einem anderen Eduardo in die Berge, auf 4000 Meter Höhe, ging zwischen Riesenkakteen spazieren, hörte die Dorfkapelle von Cachi flotte Walzer und Samba spielen, wanderte zwischen den siebenfarbigen Bergen von Purmamarco umher und fuhr an einem Abend hoch hinauf zu den Salinen an der Grenze zwischen Chile und Argentinien. Als die untergehende Sonne über die weißen Salzbecken einen zartrosa Schimmer legte und die Welt aussah, als wäre sie gerade erschaffen worden, fühlte sie sich für Augenblicke befreit vom Tango.
In Iguacú ließ sie sich von den weißen Wassermassen berauschen. In 275 Kaskaden fallen auf einer Länge von 2,7 Kilometern 1700 Kubikmeter Wasser pro Sekunde über eine Felskante. Sie wanderte um sechs Uhr morgens hin, sah Kolibris von Blüte zu Blüte schwirren, stand im weißen Wasserstaub, den der Wind von den Kaskaden hertrug, und war überzeugt, den nächsten Tango kühlen Sinnes tanzen zu können. Sie kehrte an einem Sonntagnachmittag nach Buenos Aires zurück. An diesem Tag schlug der Puls der Stadt ruhiger. Die porteños badeten im Rio de la Plata, lagen im Rosarium von Palermo in der Sonne, schmusten unter einem Riesengummibaum im Park von Recoleta oder joggten.
Spät am Abend zog sie das gefährliche Kleid an und fuhr ins Grizel, um den letzten Tango mit Eduardo zu tanzen. Im Grizel, einem der ältesten Milongalokale von Buenos Aires, trafen sich porteños, für die Tango ihr Leben war. Es herrschte eine strenge Sitzordnung: die Paare an der Stirnseite, die solteras (Frauen ohne Männerbegleitung) auf der linken Saalseite und gegenüber die solteros. Sie war froh, in Begleitung zu sein. Denn dem Ritual der Tanzaufforderung hätte sie sich nur ungern unterworfen: Die Frauen mussten die Männer genau fixieren, ob einer ihr mit den Augen deutete, dass er mit ihr tanzen wollte. Welch Blamage, wenn kein Männerauge sie anblinzelte!
In ihrem gewagten Kleid fiel sie gar nicht weiter auf. Alle Frauen zeigten selbstbewusst großes Dekolleté und viel Bein, lockten mit geschlitzten Röcken und dunkelroten Lippen. Eleganz und Understatement? Vergiss es. Hier ging es um Eroberung, Unterwerfung, große Gefühle. Sie hatte ihren kühlen Kopf längst wieder verloren, tanzte wie in Trance. Die Milonga-Nacht endete mit Horacio Ferrers berühmter Balada para un loco (Ballade für einen Verrückten). Mit leisen Worten erzählte Ferrer von dem geheimnisvollen Mann mit der Melone, den nur Liebende sehen und der Orangenzweige zum Blühen bringt. In fast unerträglicher Intensität steigerte sich der Tango zu einem bacchantischen Ruf nach Freiheit. Eduardo tanzte den zarten Beginn im Takt der gesprochenen Worte, steigerte mit der Musik die Spannung zwischen ihnen immer weiter und ließ sie dann unendlich langsam in die Finalpose gleiten, bis der letzte Ton verklungen war.

 

(Abdruck dieses Textes mit freundlicher Genehmigung der Autorin und des Reisemagazins Österreich.)

 

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